Am Straßenrand steht ein Fischverkäufer mit einem alten Schuhkarton voller
Sardinen. Aus dem Kofferraum eines Autos werden Wassermelonen verkauft.
Knatternde Vespas fahren einem fast die Fußspitzen ab, obwohl wir in der
Fußgängerzone sind, wo wir uns mit Andrea Camillieri verabredet haben, um ins
Pirandello-Haus zu gehen. Auf der Hauptstraße quirlt das Leben.
Es ist eine
Freude, mit einem gestandenen Mann durch die Straßen von Porto Empedocle zu
schlendern, den viele zu kennen scheinen. »Lange nicht mehr gesehen, Dottore,
wie geht es Ihnen?«, fragen ihn die Leute auf der Straße. Mit jedem von ihnen
tauscht der 74-jährige Andrea Camillieri die letzten Neuigkeiten aus, erzählt
einen Witz oder hält ein Schwätzchen. Wie eine Mischung aus Friedrich
Dürrenmatt und Pablo Neruda erscheint er mir. Er selbst fühlt sich Pirandello,
dem berühmten Nobel-Dichter der Stadt, nahe. Aber er ist beliebt beim Volk.
Denn er ist einer von ihnen. Er kennt die Menschen mit ihren Schwächen und
Stärken und er lebt von ihren Geschichten. Mit seiner sonoren Stimme spricht er
ein wunderbares Hochitalienisch, kann aber ebenso gut im südsizilianischen
Dialekt reagieren. Wenn er nicht hier ist, lebt er in Rom und geht einer
seriösen Professur für Dramaturgie nach. Als Drehbuchautor und
Fernsehregisseur hat er in Italien schon lange einen Namen. Nicht jedoch als
Bestseller-Autor. Das änderte sich mit seinem ersten wirklichen »Giallo«,
dh einem echten Krimi. Seither steht er in Italien gleich achtfach auf der
Bestsellerliste.
Warum sie ihn, der so überhaupt keine Allüren hat,
ehrfürchtig dottore oder professore nennen, wundert mich. »Gott sei Dank. Denn sie
wissen, dass ich nicht zur Mafia gehöre. Sonst hätten sie mich nämlich Don
genannt. Aber sie nennen auch jemanden Dottore, der gar keiner ist. Das ist hier
ein Respekttitel und zeigt an, dass man nicht dazugehört«, gibt er zur
Antwort. Wir kommen an einer Bar vorbei, wo hinter seinem Rücken einmal
geschossen, wenn auch nicht getroffen wurde, weil man ihn nicht treffen wollte.
In seiner stummen Angst ging er wortlos eine Nacht lang am Strand spazieren.
Die
Angst vor dem Tod hatte er da ein für alle Mal überwunden. Er ist
unausweichlicher Bestandteil des sizilianischen Alltags. Immerhin hat man sich
später bei ihm für den »Ärger« entschuldigt. »Man« wollte als Ehrenmann
gelten. Früher war die Mafia berechenbarer, weil sie noch gewissen Grundregeln
folgte. Heute agiert sie viel willkürlicher und trifft auch Unschuldige.
Vielleicht konnten so Camillieris sizilianische Intrigenstücke an der Mànnara,
dem Küstenstrich, in Vigata (Porto Empedocle) entstehen.
Dort nämlich
ermittelt Commissario Montalbano, dessen Name der gewitzte Krimi-Leser gleich
wieder erkennt: den katalanischen Autor Manuel Vázquez Montalbán. Camillieris
eigene literarische Karriere war anfangs nicht von Erfolg gekrönt. 1978 noch
wurde sein erstes literarisches Werk »Der Lauf der Dinge« von 14 Verlagen ab
gelehnt. Als er durch Leonardo Sciascia an den richtigen Verlag geriet,
entstanden zuerst historische Romane, die auf Begebenheiten im Sizilien des 19.
Jahrhunderts, zur Zeit der Einigung Italiens, beruhen und davon handeln, dass
die Sizilianer von den Norditalienern schikaniert wurden.
Hier siedelt
Camillieri auch die absurd-komische Geschichte »Der unschickliche Antrag« an, in der es um die Einrichtung einer privaten
Telefonleitung geht. Camillieri beruft sich in seinem Schreiben auf die
Tradition der sizilianischen »Cantastorie«, der Geschichtenerzähler und
Bänkelsänger, in deren Fußstapfen er gerne treten würde. Sie waren es, die
die Erinnerung an bestimmte Menschen und Begebenheiten wach hielten, Ereignisse
kommentierten und daher auch immer ein großes und aufmerksames Publikum fanden.
Das Publikum blieb für Camillieri zunächst aus. Der große Durchbruch beim
Lesepublikum gelang ihm erst nach seinem siebzigsten Lebensjahr. Mit der
Einführung der Figur des eigenbrötlerischen Commissario, der den Dingen in
seiner Wahrheitsliebe auf den Grund geht, aber auch kein Kostverächter ist, und
seiner in Genua sitzenden Verlobten Livia, langt Camillieri (fast) in der
Gegenwart an. Ganz gegenwartsnah wird es, wenn Montalbano nach des Tages Mühen
in den Kühlschrank schaut, wo Köstlichkeiten wie »sarde beccafisso«, also
gefüllte Sardinen, oder »Pulpi alla carretta« (Tintenfisch in Tomatensauce),
auf ihn warten.
Wenn er sie nicht gerade genüsslich ißt oder mit Livia
telefoniert, ermittelt der Commissario zwischen Zuhältern, Müllmännern,
Polizisten, Politikern und Anwälten wie in »Die Form des Wassers«.
Ihm folgte ein weiterer
Roman »Der Hund aus Terracotta«. Darin
beschäftigt er sich mit dem viel gesuchten Verbrecher Tano u Grecu. In einer
Höhle stößt Montalbano auf ein 50 Jahre zurückliegendes Verbrechen. Er
findet in inniger Umarmung die Skelette eines Liebespaars vor, das von einem
großen Schäferhund aus Terracotta bewacht wird. Um das Rätsel der
Vergangenheit aufzulösen, muss er die Zeichen einer anderen Kultur verstehen.
Der klassisch gebildete Camillieri lässt sich gerne an die multikulturelle
Geschichte Siziliens erinnern. Es macht ihm Spaß, mit Hilfe von arabischen
Suren den Fall zu lösen. Diese geben einen Hinweis auf die arabische und
frühchristliche Kultur. Aus Camillieri spricht ein runder und vielschichtiger
Mensch mit verstecktem Humor, wenn er sagt: »Um eine gute Minestrone zu kochen,
braucht man verschiedene Zutaten. Nicht zu vergessen das Salz. Das ist bei einer
Erzählung nicht anders.« Und er liebt das Verwirrspiel, das die Sizilianer
erst zur Höchstform auflaufen läßt: das Spiel mit den verschiedenen
Sprachebenen, das Spiel mit Zeichen und verschlüsselten Gesten.
In seiner
kleinen Familienwohnung in der Altstadt, wo Geräusche der Straße eindringen
und die einprägsame Stimme des Melonenverkäufers wie politische Agitation
klingt, malt Camillieri das Mückenspiel auf, das ihm Anlass für eine andere
Erzählung gab. Als Jugendliche gingen sie zum Strand, legten sich im Kreis auf
den Boden. Da musste jeder auf eine 20 Lira-Münze spucken und sie neben sich
legen. Der, auf dessen Münze sich eine Mücke setzte, kassierte alles. Man
musste ganz ruhig sein, um die Mücken nicht zu vertreiben. In dieser Phase des
Nachdenkens konnte man lernen, über sein Schicksal nachzudenken und zu werden,
was man wurde. Wie das Leben so spielt. Einer der Mitspieler wurde Mafia-Killer
und ermordet, ein anderer Schiffskapitän. Und Camillieri hingegen erzählte
sich selbst Geschichten. Che bello! Vero?