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verhalten-erleben.de ~ Ausgewählte Arbeiten rund um das Thema Psychologie [Seminararbeiten, Hausarbeiten] | > Zeitungs- oder Ezine-Artikel.  Der Verlust der Traurigkeit

Zum Glück hat nicht jeder, der hustet, Tuberkulose. Sonst würde die Zahl der Menschen, die an dieser Erkrankung leiden, jäh in die Höhe schnellen. Laboruntersuchungen sorgen hier für Klarheit und verhindern, dass die Diagnose zu häufig und damit falsch gestellt wird. Im Fall der Depression fehlt bis heute solch ein Instrument, das einigermaßen zuverlässig normalen Kummer von einer psychischen Erkrankung unterscheidet. Das beklagen jedenfalls die beiden Soziologen Allan V. Horwitz und Jerome C. Wakefield in ihrem Buch "The Loss of Sadness" und beschreiben, wie die Psychiatrie allzu oft normalen Kummer als depressive Störung verkennt.

Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) geht davon aus, dass bis 2020 Arbeitsunfähigkeit weltweit am zweithäufigsten durch Depressionen verursacht sein wird. Der amerikanische Psychiater Peter Kramer nennt die Krankheit gar schrill die "größte Geißel der Menschheit". Zu einem beliebigen Zeitpunkt sollen etwa zehn Prozent der Frauen und rund sechs Prozent der Männer an einer Depression leiden, Tendenz steigend. Aber werden diese Zahlen dadurch richtiger, dass man sie ständig wiederholt?

Nein, meinen Horwitz und Wakefield. Nicht jeder, der die Kriterien der aktuellen Einteilung psychischer Erkrankungen erfüllt, hat eine Depression. Denn diese Einteilung stützt sich vor allem auf Symptome wie gedrückte Stimmung, Lustlosigkeit, Schlafstörungen und andere. Doch solche Symptome sind häufig auch Ausdruck einer normalen Trauerreaktion – etwa bei Trennung, Scheidung, Tod einer nahestehenden Person oder schwerer körperlicher Erkrankung. Auch der Verlust des Arbeitsplatzes oder enttäuschte berufliche Hoffnungen können Kummer hervorrufen.

Der springende Punkt: Das vorherrschende Krankheitsverständnis berücksichtigt die Umstände zu wenig, unter denen diese Symptome auftreten. Dabei haben Ärzte mehr als zweitausend Jahre lang die Grenze zwischen normaler Trauerreaktion und Depression als Krankheit einigermaßen zuverlässig gezogen. Krankhafte Depression ist demnach eine überzogene Form einer normalen menschlichen Reaktion auf Verlusterfahrungen.

Die entscheidende Frage lautet: Lässt sich ein Grund für die Symptome finden oder nicht? Die Schwere der Symptome ist Horwitz und Wakefield zufolge nicht geeignet, normale Trauer und depressive Störung voneinander zu unterscheiden. Auch gesunder Kummer kann vorübergehend sehr intensiv sein. Und der für die Diagnose einer Depression geforderte Zeitraum von mindestens zwei Wochen erscheint ihnen allzu kurz, normaler Kummer kann durchaus länger dauern.

Wenn Psychiater und Hausärzte die Umstände der Symptome ihrer Patienten nicht mehr erfragen, sondern nur noch Symptomlisten abarbeiten, wird die Diagnose Depression nicht klarer, sondern verschwommener. Solche Unklarheit hat Konsequenzen. Epidemiologische Studien, die den Unterschied zwischen depressiver Krankheit und normalem Kummer nicht berücksichtigen, schätzen die Zahl der Menschen, die eine behandlungsbedürftige Depression aufweisen, zu hoch ein. Amerikanischen Studien zufolge hat fast ein Viertel der Bevölkerung innerhalb eines Monats mindestens ein depressives Symptom, ebenso viele berichten einmal im Leben über genügend Symptome, um bei ihnen die Diagnose einer Depression zu stellen. Und fast jeder fünfte Europäer soll einmal im Leben ernsthaft depressiv gewesen sein.

Wenn die Menschen nicht zur Diagnose kommen, kommt die Diagnose eben zu den Menschen – etwa mit dem Screening-Fragebogen PHQ-D. Dessen Kurzform kostet den Patienten drei Minuten und den Arzt eine Minute Bearbeitungszeit und soll doppelt so viele Depressionen erkennen wie das ärztliche Gespräch. Ist die Diagnose gestellt, wird auch therapiert, vor allem mit Antidepressiva. Zwischen 1987 und 1997 hat sich in den USA die Zahl der wegen Depression medikamentös Behandelten mehr als vervierfacht. Parallel gehen aufwendigere und kostspieligere Behandlungsformen wie die Psychotherapie eher zurück. Auch in Deutschland hat die Verschreibung von Antidepressiva deutlich zugenommen.

Der britische Psychiater John Bowlby hält Traurigkeit "für eine normale und gesunde Reaktion auf jedes Unglück". Desorganisation und gedrückte Stimmung als Reaktion auf einen Verlust sind ihm zufolge zwar schmerzlich, können aber dazu beitragen, sich an eine neue Situation anzupassen. Der gesunde Mensch erträgt diese Phase geduldig und beginnt nach einer gewissen Zeit, sein Verhalten, Denken und Fühlen neu auszurichten.

Horwitz und Wakefield üben vor allem Kritik. Als Soziologen plädieren sie dafür, depressive Symptome nicht ausschließlich dem Einzelnen zuzuschreiben, sondern auch gesellschaftliche Missstände als mögliche Gründe in den Blick zu nehmen. Dabei leugnen sie keineswegs die Existenz depressiver Erkrankungen. Auch normaler Kummer kann ihnen zufolge vorübergehend einer Behandlung bedürfen. Schließlich würde niemand einer Frau, die unter der Geburt Schmerzen leidet, ein Schmerzmittel mit dem Hinweis verwehren, ihr Schmerz sei eine normale Reaktion. Doch niemand käme ernsthaft auf die Idee, diesen Schmerz als Krankheit zu diagnostizieren.

Literatur: A.V. Horwitz, J.C. Wakefield: The Loss of Sadness – How Psychiatry Transformed Normal Sorrow Into Depressive Disorder. New York 2007.

 

  15.12.2008 | Artikel ID: 2001

 

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